IM FOKUS: DIE GESCHICHTE EINER MELODIE

Von Tobias Bleek

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Feldforschung in der südlichen Türkei, 1936 (Bartók-Archiv, Budapest)

Volksmusikstudium „an Ort und Stelle“

Béla Bartók (Zweiter von links) auf seiner letzten Sammelreise im November 1936 in der Türkei

Béla Bartók hat einen Großteil der Volksmelodien, die den Stücken der Klaviersammlung Für Kinder zugrunde liegen, selbst gesammelt. In einem Vortrag aus den späten 1920er Jahren erläutert er, warum diese Feldforschungsaktivitäten nicht nur für sein Verständnis der Volksmusik von zentraler Bedeutung waren, sondern auch für die schöpferische Auseinandersetzung mit ihr:

Mit dem Phonographen durch Südostungarn

Béla Bartók (Vierter von Links) mit seinem Phonographen beim Sammeln slowakischer Volkmelodien (vermutlich 1909)

Bartóks intensive Sammeltätigkeit setzte im Jahr 1906 ein. Zwischen Juni und November reiste der 25-Jährige in unterschiedliche Regionen seines Heimatlandes und zeichnete mehrere Hundert ungarische und slowakische Melodien auf. Als Werkzeuge dienten ihm dabei nicht nur ein Stift und sein untrügliches Ohr, sondern auch das erste in großem Maßstab produzierte Gerät zur Aufzeichnung und Wiedergabe von Klang: der von Thomas Alva Edison erfundene .

Phonograph

Béla Bartók beim Transkribieren von Volksliedern

Unter dem Namen „Phonograph‟ bzw. „Speaking machine‟ patentierte der amerikanische Erfinder und Unternehmer Thomas A. Edison (1847–1931) um die Jahreswende 1877/78 ein Gerät zur mechanisch-akustischen Klangspeicherung. Mithilfe einer Walze, einer Schalldose und einer Übertragungsvorrichtung (Nadel) konnte der flüchtige Schall sowohl aufgezeichnet als auch wiedergegeben werden. Für die Volksliedforschung war der Phonograph im Gegensatz zu anderen Geräten besonders attraktiv, da man ihn gut transportieren konnte. Mit seiner Hilfe war es den Forscherinnen und Forschern möglich, Gesänge und Instrumentalstücke nach der Rückkehr anhand der Aufnahmen in Ruhe in Notenschrift zu übertragen (transkribieren) bzw. vor Ort angefertigte Transkriptionen zu einem späteren Zeitpunkt nochmals zu überprüfen.

Komitat

Bevölkerungsgruppen und Komitate im Königreich Ungarn

„Komitate‟ nennt man im Deutschen die regionalen Verwaltungsbezirke, in die Ungarn unterteilt ist (Ungarisch: megye). Als Bartók seine Sammeltätigkeit begann gab es im Königreich Ungarn neben Békés noch 62 weitere Verwaltungsbezirke. In seinen Aufzeichnungen hat Bartók es sich zur Gewohnheit gemacht, neben dem Ort in der Regel auch das Komitat zu vermerkt, aus dem die jeweilige Melodie stammt.

Abbildung 1: Auszug aus dem Brieffragment Bartóks vom 25. November 1906 (Bartók-Archiv, Budapest)

Zu Bartóks letztem Besuch in Doboz ist ein aufschlussreiches Brieffragment erhalten (vgl. Abbildung 1). Am 25. November berichtet er begeistert einer nicht namentlich genannten Adressatin nach Budapest:

Ein Lied von „geradezu beispielloser Mannigfaltigkeit des Rhythmus“

Abbildung 2: Bartóks Transkription des Liedes „Kisdobozi kerek...‟ („Rund um Kischdobos...‟) aus dem Brieffragment vom 25. November 1906

Besonders fasziniert war Bartók offensichtlich von jener Melodie, die er später dem Stück Nr. 35 seiner Klaviersammlung Für Kinder zugrunde legte (zur interaktiven Partitur des Stückes). Denn sie unterschied sich von den anderen vorgetragenen Liedern in ihrer individualisierten Form und unregelmäßigen metrischen Struktur. Anhand einer im Brief notierten Transkription (vgl. Abbildung 1 & 2), die in doppelt so raschen Notenwerten wie die spätere Fassung aufgezeichnet ist (Sechzehntel statt Achtel etc.), erläutert er die Eigenheiten des Liedes:

Abbildung 3: Fassung der Liedmelodie in verdoppelten Notenwerten so wie sie Bartók in Für Kinder verwendet.

Bartóks Bemerkung bezieht sich auf die Irregularität der beiden mittleren Phrasen (Vers 2 und 3) des Liedes. Sie beginnen in der im Brief notierten Transkription jeweils mit einer punktierten Achtel, statt – wie man analog zur ersten Phrase erwarten könnte – mit einer Sechzehntel (vgl. T. 3f. und 6f. in Abbildung 2). Die Konsequenz dieser zeitlichen Dehnung ist eine veränderte rhythmische Struktur und ein damit einhergehender überraschender Wechsel des Metrums (vgl. Abbildung 2 & 3). Anstelle eines Vierertaktes erklingen zwei Dreiertakte. Noch verstärkt wird die Unregelmäßigkeit durch die abweichende Länge des 3. Verses. Im Gegensatz zu den anderen drei Versen der Strophe umfasst er nicht 11, sondern 15 Silben, was zu einer Erweiterung der dritten Phrase um einen zusätzlichen Takt führt (Takt 8).

Vielfalt der Texte

Den Text, den die jungen Frauen und Männer beim gemeinsamen Hochzeitsreigen zur Liedmelodie sangen, hat Bartók in seinem Brief notiert und später in seiner einflussreichen Studie Das ungarische Volkslied veröffentlicht (Nr. 115). Er lautet:

Titelblatt der Erstausgabe von Für Kinder

Im Anhang der Erstausgabe von Für Kinder, in dem auf ausdrücklichen Wunsch des Komponisten die Texte der verwendeten Lieder nachgelesen werden können, ist jedoch weder die eine noch die andere Variante abgedruckt (s. unten). Stattdessen erscheint ein Text, den Bartók offensichtlich im August desselben Jahres rund 70 Kilometer östlich von Budapest in Tápiószele aufgezeichnet hat. Über die Gründe für diese Entscheidung lässt sich wie in vielen anderen Fällen nur spekulieren. Deutlich wird an diesem Beispiel jedoch der Variantenreichtum der Volkslieder, die als Teil einer lebendigen, mündlich überlieferten Kultur ständigen Veränderungen unterworfen sind und in unterschiedlichen Text- und Melodiefassungen existieren.

Wenn ich auf dem hohen Ofner Berge steh´
Sehnend meine Heimat aus der Fern´ ich seh...
Könnte ich nur sehen von dort alle schönen Mägdelein,
Deren Augen glänzen wie die Edelstein´! [9]↓

Lektüreempfehlungen

László Vikárius, „Einleitung‟ und Kommentare zur Neuedition von Für Kinder im Rahmen des Kritischen Gesamtausgabe von Bartóks Werken (Bd. 37, erschienen 2016 bei G. Henle/Editio Musica Budapest).

Anmerkungen